Europäischer Gerichtshof - EuGH - kippt Schiedsgericht-Regelung in Bilateral-Investment-Treaty-Abkommen (BIT) - Schiedsgerichte in Freihandelsabkommen betroffen - C-284/16
Der Europäische Gerichtshof hat mit einer heutigen Entscheidung der Großen Kammer ein Urteil gefällt, das für die Zukunft wohl diverse Auswirkungen haben dürfte.
Denn es gibt diverse Freihandelsabkommen (teils abgeschlossen, teils noch vor dem Abschluß, etwa Ceta mit Kanada), die im Fall von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien Schiedsgerichte vorsehen. Vertragspartner können diese Schiedsgerichte anrufen, diese treffen schließlich eine Entscheidung.
Aber ist dieses Prinzip bzw. ist die entsprechende Vertragsklausel mit europäischem Recht vereinbar? Nein, so der Europäische Gerichtshof in einem Urteil von heute.
Das von der "Großen Kammer", also von sehr vielen Richtern entschieden wurde.
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Das Urteil: „Vorlage zur Vorabentscheidung – Bilaterales Investitionsschutzabkommen, das 1991 zwischen dem Königreich der Niederlande und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik geschlossen wurde und zwischen dem Königreich der Niederlande und der Slowakischen Republik weitergilt – Bestimmung, die es einem Investor einer Vertragspartei bei einer Streitigkeit mit der anderen Vertragspartei ermöglicht, ein Schiedsgericht anzurufen – Vereinbarkeit mit den Art. 18, 267 und 344 AEUV – Begriff ‚Gericht‘ – Autonomie des Unionsrechts“
Die Pressemitteilung (PDF): Die im Investitionsschutzabkommen zwischen den Niederlanden und der Slowakei enthaltene Schiedsklausel ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar
https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-03/cp180026de.pdf
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Der Hauptsatz aus der PM:
> Diese Klausel entzieht dem Mechanismus der gerichtlichen Überprüfung des Unionsrechts Rechtsstreitigkeiten, die sich auf die Anwendung oder Auslegung dieses Rechts beziehen können.
Es gab 1991 ein Abkommen zwischen der ehemaligen Tschechoslowakei und den Niederlande zur Förderung und zum Schutz von Investitionen (Bilateral Investment Treaty - BIT). Das BIT bestimmt, daß Streitigkeiten zwischen einer Vertragspartei und einem Investor der anderen Vertragspartei gütlich oder vor einem Schiedsgericht beizulegen sind.
Die Tschechoslowakei löste sich auf, die Slowakei trat in den Vertrag ein. 2004 öffnete die Slowakei den Markt für private Krankenversicherungen. Achmea, ein zu einem niederländischen Versicherungskonzern gehörendes Unternehmen gründete eine Tochtergesellschaft in der Slowakei. 2006 machte die Slowakei die Lieberalisierung teils rückgängig und untersagte Gewinnausschüttungen aus dem Krankenversicherungsgeschäft. 2008 leitete Achmea auf BIT-Grundlage ein Schiedsgerichtverfahren ein und meinte, daß ihr ein Vertragsschaden entstanden sei. 2012 entschied das Schiedsgericht, daß die Slowakei gegen das BIT verstoßen habe und verurteilte die Slowakei zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 22,1 Millionen Euro.
Daraufhin erhob die Slowakei beim OLG Frankfurt (Frankfurt am Main war Schiedsort) Klage auf Aufhebung des Schiedsspruchs. Die Schiedsklausel würde gegen mehrere Bestimmungen des europäischen Vertrags verstoßen. Das OLG Frankfurt wies die Klage ab, dagegen Beschwerde beim Bundesgerichtshof. Dieser hatte ein Vorabentscheidungsersuchen beim Europäischen Gerichtshof eingereicht, um zu erfahren, ob die von der Slowakei angefochtene Schiedsklausel mit dem AEU-Vertrag vereinbar sei.
Der Bundesgerichtshof teilte die Einwände der Slowakei eher nicht (Urteil RN 14).
> Die Slowakische Republik äußert insoweit Zweifel an der Vereinbarkeit der Schiedsklausel in Art. 8 des BIT mit den Art. 18, 267 und 344 AEUV. Auch wenn das vorlegende Gericht diese Zweifel nicht teilt, hält es gleichwohl für seine Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit eine Befassung des Gerichtshofs mit dem Vorabentscheidungsersuchen für erforderlich, da der Gerichtshof über diese Fragen bislang nicht entschieden habe und sie wegen der zahlreichen bilateralen Investitionsschutzabkommen zwischen Mitgliedstaaten, die eine ähnliche Schiedsklausel enthielten, von erheblicher Bedeutung seien.
Europapolitisch ist die Sache sehr brisant:
> Die Tschechische Republik, Estland, Griechenland, Spanien, Italien, Zypern, Lettland, Ungarn, Polen, Rumänien und die Europäische Kommission haben Erklärungen zur Unterstützung des Vorbringens der Slowakei eingereicht, während Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich und Finnland die streitige Klausel und – allgemeiner – ähnliche Klauseln in den 196 gegenwärtig zwischen den Mitgliedstaaten der EU bestehenden BIT für gültig halten.
10 EU-Staaten plus die Europäische Kommission gegen 5 EU-Staaten, darunter Deutschland und Frankreich. Ferner wirkt sich das auf dramatisch viele andere BIT aus.
Die Begründung ist "deutlich":
Das Schiedsgericht müsse alle erheblichen Abkommen berücksichtigen, die für die Vertragsparteien gelten. Das Unionsrecht ist autonom, es hat Vorrang vor dem Recht in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Konsequenz:
> Daher kann das fragliche Schiedsgericht unter diesen beiden Aspekten das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr auszulegen oder sogar anzuwenden haben.
Das Schiedsgericht muß Unionsrecht beachten. Ok, da könnte man ja noch sagen: Mag es das tun.
Aber: Das Schiedsgericht - siehe der vorliegende Fall - hat einen Ausnahmecharakter. Es gehört weder zum niederländischen noch zum slowakischen Gerichtssystem. Folglich ist es nicht befugt, ein Vorabentscheidungsersuchen bei EuGH zu stellen:
> Folglich kann dieses Schiedsgericht nicht als Gericht „eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 267 AEUV eingestuft werden und ist daher nicht befugt, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen anzurufen.
Nun kann - theoretisch - ein Schiedsspruch von einem örtlich zuständigen Gericht überprüft werden. Aber: Die Entscheidung des Schiedsgerichts ist - eigentlich - endgültig. Ferner kann das Schiedsgericht seine eigenen Verfahrensregeln und seinen Ort selbst festlegen. Damit wird auch das Recht gewählt, nach dem eine gerichtliche Überprüfung des Schiedsspruchs möglich wäre.
Nur: Eine solche gerichtliche Überprüfung ist nur dann gestattet, wenn das nationale Recht dieses erlaubt. Das ist hier nicht der Fall. Das deutsche Recht sieht nur eine beschränkte Überprüfbarkeit vor. Das ist dem Europäischen Gerichtshof zu wenig. Folglich:
> Aus diesen Gründen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Slowakei und die Niederlande mit dem Abschluss des BIT einen Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten geschaffen haben, der nicht sicherzustellen vermag, dass über diese Streitigkeiten ein zum Gerichtssystem der Union gehörendes Gericht befindet, wobei nur ein solches Gericht in der Lage ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.
Damit ist die Konsequenz klar: EU-Recht kann gegebenenfalls nicht durchgesetzt werden. Also ist die Klausel nicht mit EU-Recht vereinbar.
> Unter diesen Umständen beeinträchtigt die im BIT enthaltene Schiedsklausel die Autonomie des Unionsrechts und ist daher nicht mit ihm vereinbar.
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Interessant ist die RN 45 im Urteil:
> In der Rechtssache des Ausgangsverfahrens ist das Schiedsgericht jedoch kein Teil des in den Niederlanden und in der Slowakei bestehenden Gerichtssystems. Im Übrigen ist gerade der Ausnahmecharakter seiner Gerichtsbarkeit im Verhältnis zu der der Gerichte dieser beiden Mitgliedstaaten einer der Hauptgründe für das Bestehen von Art. 8 des BIT.
Die Klausel wurde also eingeführt, um das Schiedsgericht den Gerichtssystemen der beiden Vertragsparteien zu entziehen. Das Schiedsgericht muß aber Unionsrecht beachten, kann jedoch - da außerhalb des niederländischen und des slowakischen Rechts stehend - selbst kein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH stellen -> damit ist die Klausel nicht mit EU-Recht vereinbar.
Das Urteil dürfte "ziemlich massive Auswirkungen" haben. Sprich: Es gibt keine Sonderjustiz für Konzerne. Im Streitfall muß ein ausländischer Konzern vor der lokalen Gerichtsbarkeit klagen.